Die Mär vom Leitwolf

Die Mär vom Alphawolf, Leitwolf, Chef und Rudelführer

  Anfang der 70er Jahre beschloss ein amerikanischer Verhaltensforscher namens David Mech Gehegewölfe zu beobachten, da es zu der Zeit kaum freilebende Wölfe gab, weil diese massiv bejagt wurden.

So ging er in zoologische Gärten um da seine Schlüsse zu ziehen. Wer schon mal in einem Zoo war und Raubtiere beobachtet hat, hat höchstwahrscheinlich dabei nichts Besonderes gesehen. Klar, denn in einem Gehege gibt es keine Anreize und nichts, was man beobachten könnte. 23 Stunden Nichtstun, Rumhängen und Langeweile. Der Höhepunkt des Tages war die Fütterung. Plötzlich kam Bewegung in die Sache. Voller Gier strebten die gefangen gehaltenen Tiere zum Futter, und es begann ein erbitterter Kampf um die besten Stücke. Und David Mech machte immer wieder die gleiche Beobachtung: Wer am Stärksten war und am meisten rumprollte, der bekam am meisten Nahrung ab. Den nannte er dann den Alpha, den Zweitstärksten den Beta, und den Schwächsten, den Prügelknaben, denjenigen der sozusagen die "Arschkarte" gezogen hatte nannte er Omega. Aufgrund der sich immer wieder gleichenden Beobachtungen schrieb er ein Buch, welches damit zur Bibel der Hundehalter wurde. Fortan wussten alle Hundehalter, welche Stellung sie im Zusammenleben mit ihrem Hund hatten: Der Mensch als der Chef, ergo der Hund der Omega, der der nichts zu melden hatte.

David Mech ruhte sich aber nicht auf seinen Lorbeeren aus und beschloss 1995 im Yellowstone Nationalpark freilebende Wolfsrudel zu beobachten. Und auch da machte er immer wieder die gleiche Beobachtung - jedoch eine völlig andere: Ein Wolfsrudel besteht aus einem monogam lebenden Elternpaar und deren Welpen. Kein Alpha, kein Chef, kein Leitwolf, kein Rudelführer. Die Eltern sind wie alle Tiereltern extrem liebevoll, fürsorglich und tolerant und sorgen dafür, dass der Nachwuchs groß, stark, stolz und selbstbewußt wird. Da sie keine Beutetiere sondern Beutegreifer sind, werden die Schwächsten besonders gepäppelt, denn sie ziehen ja keine Fressfeinde an, wie es bei Pflanzenfressern der Fall ist. Den Luxus kann man sich als Raubtier leisten. Mit 2 Jahren kommen die Welpen in die Pubertät, wandern dann nach und nach ab und verlassen das "Elternhaus" und suchen sich draußen in der Wildnis einen Partner mit dem sie dann ebenfalls eine Familie gründen. Genau wie bei uns Menschen. Doch davor kommt noch ein zweiter Wurf Welpen, die kleinen Geschwisterchen. Die älteren weiblichen Geschwister werden nach der ersten Läufigkeit scheinträchtig (wie alle unsere Hündinnen), und das hat die Funktion, dass sie als Ammen, bzw. Babysitter die Kleinen mitversorgen.
Wölfe: Hochsoziale Familientiere, die ein Miteinander und kein Gegeneinander bilden. Auch unter den Geschwistern hat David Mech und viele andere moderne Kynologen bis dato keine Hierarchien feststellen können.

Wie kam es nun zu dieser Fehlbeobachtung bei den Gehegewölfen? Gehegewölfe sind in der Regel handaufgezogene Wölfe, die nicht verwandt sind. Wenn man bedenkt, wie groß die Lebensräume von Wölfen in der Natur sind, so dass sie einem anderen Rudel großzügig ausweichen können, damit keine Konflikte entstehen, dann ist so ein Gehege das genaue Gegenteil. Und so kommt es – zusammen in dieser absoulut reizarmen Umgebung – zu Spannungen. Wir kennen das von Big Brother oder Dschungelcamp: Zehn nette junge Menschen zwangsweise auf engem Raum, und in kürzester Zeit fliegen die Fetzen. Bei Tierversuchen mit Ratten (hochsoziale Tiere) auf zu engem Raum, also in nicht artgerechter Haltung entstand sogar Kannibalismus, was überhaupt nicht in das Verhaltesmuster dieser Tiere passte.

Und so entstanden vom Menschen verursachte unnatürliche Hierarchien und unnatürliche Verhaltesmuster, die damals für die Realität gehalten wurden. Würde man Häftlinge im Gefängnis beobachten, könnte man auch keine allgemein gültigen Verhaltensschemen  beobachten, sondern das Verhalten von Menschen in absoluten Ausnahmezuständen.
Das Buch von David Mech blieb noch bis vor 15 Jahren auf dem Markt, da es ein Bestseller war, und der Verlag daher keinerlei Gründe sah, dieses zu entfernen. Als Autor gibt man die Rechte an den Verlag ab.

Und so hält sich das Märchen vom Rudelführer immer noch nachhaltig in unseren Köpfen und wird wie bei der Flüsterpost immer noch weiter erzählt und verbreitet. Und unzählige Hunde leiden deswegen heute noch unter der Dominanztheorie.

Vor einigen Jahren wurde von Forschern für die ARD in der Lausitz eine wunderbare Naturdoku über dort freilebenden Wölfe gedreht, die genau das nochmal deutlich bestätigte.

Und wie ist es denn dann bei Hunden, die ja nun keine Wölfe sind? Hunde sind keine Rudel- und auch keine Familientiere. Sie leben genau wie Katzen autark, sind aber durch die Domestizierung so stark auf den Menschen geprägt, dass sie dessen Gesellschaft der eines Artgenossen vorziehen.

Hund und Mensch bilden kein Rudel, Pferd und Mensch bilden keine Herde, Wellensittich und Mensch bilden keinen Schwarm.
Also kein Alpha, kein Rudelführer, kein Chef und somit keine Rangordnung und keine Hierarchien.

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